Bevor ich die Parteiprogramme zum Thema Femizide / Gewalt gegen Frauen unter die Lupe nehme, möchte ich einige allgemeine Hinweise und Gedanken zu diesem Thema vorausschicken.
Gewalt gegen Frauen ist – leider – kein neues Thema, aber es ist relativ neu, dass das Thema in Medien und Politik so benannt wird und überhaupt Aufmerksamkeit erfährt.
Ein Blick zurück
Gewalt gegen Frauen hat eine Geschichte, sie ist letztlich verankert in Strukturen, die allenfalls formal der Vergangenheit angehören – in den Köpfen, im Erleben und in der Mentalität sind sie es aber noch lange nicht. Auf der formalen Ebene können Frauen über sich, über ihren Körper, über ihr Leben selbst entscheiden. Gerne wird in dem Zusammenhang (vornehmlich von Männern) darauf hingewiesen, wie fortschrittlich wir in Deutschland in der Hinsicht doch seien und wie rückständig dagegen andere Gesellschaften. Ah ja. Im Jahr 1958 trat das Gleichberechtigungsgesetz in Kraft, aber noch bis 1977 durfte die Frau nur dann arbeiten gehen, „soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“ (Gleichberechtigungsgesetz vom 1. Juli 1957) Und erst im Jahr 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe strafrechtlich gleichgestellt mit Vergewaltigungen außerhalb der Ehe. Dem war eine jahrzehntelange Debatte vorangegangen, denn erstmals wurde 1972 versucht, das Strafrecht in dem Punkt zu ändern. Im Laufe der diversen Debatten spielten sich im Bundestag auch Szenen ab, die ich nur als ekelhaft bezeichnen kann, wie etwa am 5.5.1983, als Waltraut Schoppe von den Grünen eine Rede hielt: Es gab Zwischenrufe, vor allem von Herren aus der CDU/CSU, der untersten Schublade, die ich hier nicht wiederholen will.
Dass es in den Köpfen vieler Menschen auch nach der (längst überfälligen) Entscheidung von 1997 noch lange Zeit so aussah wie in den vermeintlich verstaubten 50ern oder noch früher, macht dann ein Sprung ins Jahr 2008 deutlich. In diesem Jahr erging ein Urteil des Bundesgerichtshofs. Verhandelt wurde über die Tötung einer Frau durch ihren Ex-Partner/Partner, und die Frage war – verkürzt gesagt –, ob die kurz zuvor erfolgte Trennung der Frau vom Mann nicht vielleicht ein Umstand sein könnte, der aus einem Mord einen Totschlag macht. Und siehe da, das Bundesverfassungsgericht war der Auffassung, dass das in der Tat eine besondere Situation sei, und zwar mit dieser bemerkenswerten Begründung:
„Vielmehr können in einem solchen Fall tatauslösend und tatbestimmend auch Gefühle der Verzweiflung und inneren Ausweglosigkeit sein, die eine Bewertung als „niedrig“ im Sinne der Mordqualifikation namentlich dann als fraglich erscheinen lassen können, wenn – wie hier – die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will […]“. (Bundesgerichtshof, Urteil vom Aktenzeichen 2 StR 349/08, Urteil vom 29.10.2008, abgerufen am 12.01.2025)
Im Ernst?
Das muss man sich mal vor Augen führen: Gegen die „niedrigen Beweggründe“ spricht, dass die Frau sich getrennt und damit ihre eigene Tötung ausgelöst hat, denn der Mann will sie ja eigentlich „behalten“. Und überhaupt: Kann man nicht nur etwas rauben, was man zuvor besessen hat? Der Mann hat die Frau also besessen?
Das Urteil und ähnliche Urteile werden seitdem immer wieder in ähnlich gelagerten Fällen hinzugezogen, so urteilte der Bundesgerichtshof 2018:
„Gerade der Umstand, dass die Trennung vom Tatopfer ausgegangen ist, darf als gegen die Niedrigkeit des Beweggrundes sprechender Umstand beurteilt werden“. (Bundesgerichtshof, Urteil vom Aktenzeichen 1 StR 351/17, Urteil vom 21.02.2018, abgerufen am 12.01.2025)
Also wieder: Wenn die Frau sich trennt und ihr Ex-Partner sie tötet, sprechen die Umstände eher dafür, dass er sie aus dem Affekt getötet hat und keine niedrigen Beweggründe dahinterstehen. Weil offenbar dieser seltsame „Besitzanspruch“, der damit verbunden ist, kein niedriger Beweggrund ist.
Es geht auch anders …
Es gibt aber inzwischen auch andere Rechtsprechungen und vor allem viele Jurist:innen, die sich für eine andere Rechtsprechung auf höchster Ebene und/oder Gesetzesänderungen einsetzen – aber oft ist es noch so wie in den oben zitierten Urteilen, und damit verbunden ist natürlich auch, wie jede Einzelne, jeder Einzelne sich und seine Handlungen, sein Leben in dieser Gesellschaft sieht und bewertet. Die Urteile finden ja nicht im luftleeren Raum statt. Trennungen sind oft nicht leicht, weder für Frauen noch für Männer, für Frauen sind sie aber schlicht und ergreifend auch eine sehr gefährliche Situation, das schwingt zumindest immer mit – und dann bekommen Frauen statt bedingungslosen Rückhalts durch staatliche Organe durch solche Urteile mit auf den Weg, dass sie der Besitz des Mannes sind und man den ja irgendwie verstehen kann, wenn er dann in der Situation gewalttätig wird.
… aber leider geht es meistens so
Letzteres ist vielleicht etwas überspitzt, aber das ist das Umfeld, in dem wir heute leben, das ist die Welt, in der Frauen leben und in der Frauen bis heute benachteiligt werden. Perfiderweise, und hier spreche ich auch aus Erfahrung, wird ja aber an jedem Laternenpfahl gesagt, dass Frauen gleichberechtigt sind, ergo: Wenn ich als Frau z.B. beruflich auf keinen grünen Zweig komme, weil sich ein männlicher Kollege in demselben Umfeld und derselben Situation Dinge herausnehmen kann, die ich mir niemals herausnehmen könnte, oder wenn ich mehr als andere leisten und mich immer wieder beweisen muss, ohne dass ich wirklich die Früchte der Arbeit davontragen könnte, gleichzeitig aber zig Männer an mir vorbeiziehen, die vor allem auf die Kacke hauen können, egal, wie viel dahinter steckt, dann gibt es hier zwar offensichtlich eine Ungleichbehandlung, aber irgendwo in meinem Kopf bleibt der Gedanke: Ich hätte es doch schaffen müssen, ich bin ja gleichberechtigt. Und wenn ich es nicht schaffe, habe ich eben doch nicht genug geleistet. Es hat sehr viele Jahre gedauert, bis ich den Fehler nicht bei mir gesehen habe, bis ich verstanden habe, dass es die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung in vielen Bereichen auf dem Papier gibt, aber nicht in der Realität. Dagegen kann ich kämpfen und versuche das auch, aber, und damit schlage ich den Bogen zurück zum Anfang, die Strukturen und vor allem die Mentalitäten, die sich über eine sehr lange Zeit gebildet haben, die von allen (einschließlich mir selbst) verinnerlicht wurden, die ändern sich eben nicht so schnell und die ändere ich nicht so schnell. Insofern ist es oft ein Kampf gegen Windmühlen, und der ist vor allem mühsam, mitunter zermürbend. Das setzt sich natürlich auch in anderen Bereichen fort: Ich bin viel unterwegs und erlebe bis heute, wie ich als alleine reisende Frau anders behandelt werde als ein allein reisender Mann. Wenn ich zu Fuß unterwegs bin (und das bin ich oft), bin ich zwar nicht ängstlich, aber zunehmend genervt davon, dass ich nicht weiß, ob der Mann, der mir entgegenkommt, gleich seinen Penis rausholt oder nicht. Wiederum: eigene Erfahrung. In dem Zusammenhang bringt eine Umfrage sehr gut auf den Punkt, wie diese Welt aus der Sicht vieler Frauen aussieht: Im Jahr 2020 fragte die Influencerin Isabell Gerstenberger Frauen auf Social-Media-Plattformen: „Was würdet ihr tun, wenn es 24 Stunden keine Männer gäbe?“ Und die Antworten? Gerstenberger: „Die meisten haben geschrieben, sie könnten dann ohne Angst nachts draußen sein.“
Als ich davon zum ersten Mal gehört habe, hätte ich heulen können. Denn was sagt das über diese Welt aus?
Was heißt das für die heutige Politik?
Vor dem Hintergrund all dessen, was ich dargelegt habe, ist Gewalt gegen Frauen, sind Femizide heute zu sehen. Es hat lange gedauert, bis das Thema überhaupt als Thema wahrgenommen wurde, und auch die Entwicklung in der öffentlichen Wahrnehmung vom „Sittenstrolch“ zur „sexuellen Belästigung“ oder „sexualisierten Gewalt“ ist mindestens einen weiteren Beitrag wert, den ich an anderer Stelle veröffentlichen werde. Nun aber ist das Thema (zumindest einigermaßen) in den Medien angekommen, und auch die Politik greift es auf.
So wurde für das Jahr 2023 erstmals geschlechtsspezifische Gewalt kriminalstatistisch erfasst – und das Ergebnis war erschreckend: Es wurden im ganzen Jahr 390 Frauen getötet, davon standen statistisch 80,6 %, also 290 Fälle, „im Zusammenhang mit partnerschaftlichen Beziehungen“ (Pressemitteilung „Straftaten gegen Frauen und Mädchen steigen in allen Bereichen – Fast jeden Tag ein Femizid in Deutschland“ vom 19.11.2024, abgerufen am 12.01.2025).
Das ist eine Realität, die eine angeblich fortschrittliche, gleichberechtigte Gesellschaft erschüttern und umtreiben muss, und daher muss es auch die Politik erschüttern und umtreiben. Auch wenn es vielleicht keine schnelle Lösung geben kann, gehört das Thema auf die Agenda jeder Partei, die von sich behauptet, für eine gleichberechtigte Gesellschaft einzutreten.

