Noch vor wenigen Wochen wurde der Wahlkampf vor der Bundestagswahl 2025 von Wirtschaftsthemen bestimmt, und irgendwie schien sich auch zumindest die im Bundestag vertretenen Parteien darin einig zu sein, dass „Wirtschaft“ das Wichtigste Thema ist.
Es sei dahingestellt, ob diese Einschätzung richtig war und worauf sie überhaupt fußte, aber das Thema „Wirtschaft“ ist inzwischen nach hinten gerückt, stattdessen wird der Wahlkampf jetzt vom Thema „Migration“ bestimmt, genauer gesagt hört und liest man überall Begriffe wie „illegale Einwanderung“, „illegale Migration“, „Zustrom von Flüchtlingen“ und „Flüchtlingskrise“.
Genau um diesen letztgenannten Begriff geht es jetzt in meiner Kurzintervention. Möglicherweise denken die meisten Menschen gar nicht darüber nach, was der Begriff bedeutet, wenn sie ihn verwenden, aber genau das ist hier wichtig.
Was steht hinter dem Begriff?
Was bedeutet „Flüchtlingskrise“, wessen Perspektive wird hier eigentlich eingenommen?
Die Flüchtlingskrise, so wird der Begriff überwiegend verwendet, ist eine Krise, die durch Flüchtlinge ausgelöst wird. Man kann die Realität wirklich nicht weiter verdrehen: Menschen fliehen vor etwas, vor jemandem, vor einer hoffnungslosen wirtschaftlichen Lage, vor politischer Verfolgung, weil sie wegen ihrer Religion oder ihres Geschlechts unterdrückt werden, weil sie ihre Meinung nicht frei äußern können, ohne sich in Gefahr zu begeben – sie fliehen aus ganz unterschiedlichen Gründen und suchen Hilfe, Unterstützung, Sicherheit oder auch „nur“ einen Ort, an dem sie zur Ruhe kommen und überhaupt zum ersten Mal ein eigenes Leben führen können. Statt davon zu reden, statt diese Krise von Menschen zu thematisieren, verdrehen wir die Tatsachen und sagen, diese Menschen lösen eine Krise aus – welche Krise auch immer. Manche meinen vielleicht nur die Herausforderungen, vor denen Mitarbeitende von Verwaltungen stehen, andere vielleicht die Herausforderungen für die Unterbringung, es gibt aber auch solche, die wirtschaftliche, gar strafrechtliche Aspekte pauschal mit diesem Begriff und damit den Menschen, die gemeint sind, verknüpfen. In jedem Fall zeigt sich: Die Krise ist immer „unsere“ Krise, nie die Krise der Menschen, die geflohen sind. Und das geht einfach an den Tatsachen vorbei.
Es wäre also gut, diesen Begriff gar nicht zu verwenden. Aber leider ist das nicht der Fall. Hier ein paar Zahlen aus dem Archiv der Drucksachen des deutschen Bundestags.
Ein paar Zahlen
Eine schnelle Suche ergibt: für die Suchbegriff „Flüchtlingskrise“ gibt 856 Treffer (Stand 04.02.2025) und ich schaue mir hier erst einmal nur an, wann der Begriff wie oft verwendet wurde:
In der 12. Wahlperiode (1990-1994): 3 Mal
In der 13. Wahlperiode (1994-1998): 4 Mal
In der 14. Wahlperiode (1998-2002): 6 Mal
In der 15. Wahlperiode (2002-2005): 1 Mal
In der 16. Wahlperiode (2005-2009): 7 Mal
In der 17. Wahlperiode (2009-2013): 6 Mal
in der 18. Wahlperiode (2013-2017): 347 Mal
In der 19. Wahlperiode (2017-2021): 365 Mal
In der 20. Wahlperiode (2021-2025): 117 Mal
Man könnte diese Zahlen so interpretieren, dass der Begriff vor allem seit 2013 „normal“ geworden ist. Er ist so „normal“ geworden, dass er sogar im Duden steht.
Was aus meiner Sicht noch wichtiger und auch schlimmer ist: Der Begriff „Flüchtlingskrise“ steht in einer Reihe mit Begriffen wie „Flut“, „Zustrom“, „Masse“. Eine unbestimmte Menge, die als „Bedrohung“ dargestellt wird: In Fluten ertrinkt man, ein Zustrom muss kontrolliert oder abgestellt werden, mit einer Masse bringen die meisten intuitiv etwas Großes, Gewaltiges in Verbindung.
All diese Begriffe machen aber noch etwas, wenn sie so verwendet werden: Sie entmenschlichen Menschen. In einer Masse, in einem Zustrom, in einer Flut verlieren sich einzelne Schicksale, einzelne Biografien, die Leben jedes einzelnen Menschen. Mutmaßlich ist genau das mit der Verwendung solche Begriffe beabsichtigt, denn sobald Menschen nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes ein Gesicht bekommen, sondern sobald deren Geschichte bekannt wird, deren Biografie, deren Wünsche, Träume, das, woran sie bislang gescheitert sind, das, worauf sie hoffen, dann ist es in den meisten Fällen sehr schwierig, auf diese konkreten biografischen Erlebnisse mit einem gegen eine Masse gerichteten Populismus zu reagieren.
Mit Worten beginnt vieles, im besten Fall etwas Gutes. Mit einem Wort wie „Flüchtlingskrise“ wird man aber keinem Menschen gerecht, nirgendwo.

