Contentwarnung: Es geht u.a. um Ungerechtigkeit, Suizid und Jens Spahn.
Eine große deutsche Boulevardzeitung – ich will ihren Namen hier gar nicht nennen, aber um einen Bezugspunkt zu haben, gebe ich ihr die Bezeichnung „MÜLL“ – zitiert Jens Spahn aktuell mit dem Satz „Die fetten Jahre sind vorbei“. Wäre dies ein Satireblog, würde ich fragen: Was heißt das? Hat Spahn seine Retro-Ader entdeckt und empfiehlt jetzt Filme aus den frühen 2000ern? Oder ernährt er sich ab sofort fettlos? Oder hat das irgendeinen Bezug zu Hip Hop, also „krass war vorgestern, fett war gestern, heute ist spahn: Der neue Track ist echt spahn.“
Diese Herangehensweise ist auch Abwehr- und Schutzmechanismus in einem, denn wenn ich beides fallenlasse, wird es weniger lustig – und das passiert jetzt, denn was Jens Spahn sagt, ist einfach nicht lustig.
Erstens: Was sind die „fetten Jahre“?
Damit meint man meist „gute Jahre“, ABER es geht in der Regel um „gut“ in finanzieller Hinsicht, in materieller, kapitalistischer Hinsicht, es geht nicht um Jahre, in denen die Menschen besonders rücksichtsvoll waren. In denen viele Kinder unabhängig von ihrer Herkunft (im Hinblick auf den Geburtsort, aber vor allem auch im Hinblick auf den finanziellen Background) gefördert wurden, uneingeschränkten Zugriff auf Bildung hatten, ihren Interessen nachgehen, ihre Stärken noch stärker machen konnten und das Gefühl bekamen, gewollt, geschätzt, gebraucht zu werden. Oder Jahre, in denen Frauen faktisch genauso geschützt waren wie Männer, genauso viele Rechte (nicht nur auf dem Papier) hatten, Jahre, in denen sich die Mehrheit der Männer aktiv für Frauen eingesetzt haben, angefangen bei sexistischen Sprüchen im Freundeskreis über den öffentlichen Raum hin zu Führungspositionen in Betrieben und Politik.
Schlimm genug, denn es ist fragwürdig, ob in dieser Hinsicht „fette“ Jahre auch „gut“ sind.
Zweitens: Über wen spricht Jens Spahn da?
Wer hatte „fette Jahre“? Denn eines ist klar: Die Leute, die z.B. während oder kurz nach Corona keinen Arbeitsplatz mehr hatten – sei es, weil die Firma pleiteging (die, in der man beschäftigt war, oder auch der eigene Betrieb), sei es, weil die Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit so gravierend waren / sind, dass man nicht mehr oder nur noch eingeschränkt arbeitsfähig ist -, diese Leute sind sicher nicht gemeint. Und bestimmt nicht diejenigen, die die letzten Jahre aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht überlebt haben, oft nicht mehr überleben wollten. Es sind sicher auch nicht die Leute gemeint, die täglich in ein Hamsterrad gehen und trotz aller Mühe und Anstrengung immer mehr vom verdienten Geld für eine immer teurer werdende Wohnung abzweigen müssen (aber auch nix kaufen können, weil entweder zu teuer oder es gibt kein Geld von der Bank, weil man sich finanziell nicht überheben möchte und daher „nur“ z.B. 30000 Euro für eine kleine Wohnung aufnehmen will – da sagt die Bank „Haha, nee, das ist zu wenig, das kriegen Sie nicht“. Echt fett. Gemeint sind auch nicht die Menschen in chronisch unterbezahlten Berufen, die aber für die Gesellschaft total wichtig sind, z.B. Pflegekräfte, Erzieher:innen. Da sagen Politiker:innen wie Herr Spahn zwar ganz oft, wie wichtig die doch sind, aber das war’s dann auch. Die haben anscheinend aus Sicht von Jens Spahn ja schon so fette Jahre, dass man da nix mehr tun muss.
Noch mal persönlich zu den letzten vermeintlich fetten Jahren: Ich ganz persönlich habe die Pandemie mit fast allem bezahlt, auch mit viel Geld – erinnert ihr euch, es wurde ja seit den 90ern gesagt, „man“ solle privat fürs Alter zurücklegen – das ist bis heute die Maxime und es ist wirklich grotesk, denn diejenigen, die im Arbeitsleben wenig verdienen, sind ja auch diejenigen, die später wenig Rente bekommen, also im Arbeitsleben „privat vorsorgen“ müssten – aber wovon denn? Und selbst wenn diese Menschen es schaffen, Geld zurückzulegen, kommt dann plötzlich eine Bankenkrise oder ein Börsencrash, eine Pandemie oder ein Cum-Ex-Geschäft – und futsch ist das Geld.
Dabei sind solche Ereignisse keine „Gleichmacher“, es ist nicht so, als würden dann *alle* ihr Geld, ihre Rücklagen verlieren, im Gegenteil: Solche Ereignisse haben sich in den letzten 20 Jahren als die größten Ungleichmacher erwiesen, denn es gibt Gewinner (ich bleibe hier bewusst bei der männlichen Form, denn es sind über 90% Männer) und es gibt Verlierer:innen.
Und damit zu …
Drittens: Was kommt nach den vermeintlich fetten Jahren?
Offenbar die nicht fetten Jahre. Alles andere ergäbe in diesem Narrativ keinen Sinn. Herr Spahn sagt also, „wir“ müssen uns auf schlechtere Jahre einstellen. Und wieder stellt sich die Frage: Ja wer denn bitte? Werden also Diäten von Politiker:innen drastisch gekürzt, oder zumindest symbolisch, um ein Zeichen zu setzen? Nö. werden verbeamtete Menschen nun auch sozialversicherungspflichtig, fallen damit auch vergleichsweise hohe Pensionen in Zukunft weg? Nö. Gibt es eine Steuer (ob man sie Vermögenssteuer oder anders nennt) zumindest für Geldvermögen ab einer bestimmten Höhe, die ja auch recht hoch sein könnte – sagen wir, wenn man mehr als eine Million auf dem Konto rumliegen hat, zahlt man von diesem Mehr eine zusätzliche Steuer von x Prozent? Oder auch von mehr als „nur“ einer Million? Nö. Werden sich Menschen mit überdurchschnittlichem sozialen und finanziellen Background einschränken, um auch Menschen aus bislang benachteiligten Bereichen Bildung und Aufstieg zu ermöglichen. Haha, good one.
Fazit
Ich bin wirklich all for it, wenn es eine Krisensituation gibt und *alle* etwas tun müssen, um diese Situation zu bewältigen, auch wenn es vorübergehend unangenehm, einschränkend ist. ABER das Problem ist, dass es eben nicht um ALLE geht. Es hat Gründe, warum die Ungleichheit in Deutschland nachweislich immer größer geworden ist und groß bleibt, insbesondere in den letzten Jahren. Und vor dem Hintergrund ist es einfach unverschämt, denjenigen, die am unteren Ende der Gesellschaft stehen, zu sagen, dass die guten Zeiten nun aber wirklich mal vorbei sein müssen.

